Seit ich täglich mit dem Auto zur Arbeit fahre, muss ich wieder öfter an den Tag denken, an dem wir mit Hyundai zum Decken nach Uslar reisten. Es war im Jahr 1996, wahrscheinlich im März. Mein Vater und ich verluden Hyundai auf dem Hänger und fuhren sehr früh vom Hof, denn man musste ja „vor 8 Uhr über das Frankfurter Kreuz gefahren sein“ (O-Ton mein Vater), um gut in Richtung Norden durchzukommen.
Bereits als wir auf die Spiesheimer Landstraße einbogen, polterte Hyundai sehr stark hinter uns. Mein Vater steuerte seinen Geländewagen sehr vorsichtig den Hügel in Richtung Spiesheim hinauf. Oben angekommen gelangt man an eine Kreuzung, die nach Rechts zur Autobahn führt. Beim Halt an diesem Stopschild wackelte der Anhänger inklusive unseres Fahrzeugs extrem, so dass ich richtig Angst bekam. Außerdem war es hinter uns in diesem Moment noch lauter als zuvor. Mein Vater blieb cool und meinte, Hyundai würde sich nur so sehr aufregen weil wir stehen. Sobald der Wagen sich wieder bewegte, würde sie aufhören. Wir schlichen also behutsam über die Kreuzung und auf die Autobahn A63 in Richtung Mainz. Ganz vorsichtig beschleunigte mein Vater sein Auto auf 80km/h. Im Hänger hinter uns war es still.
Einige hundert Meter hinter der nächsten Ausfahrt (Wörrstadt), beschloss mein Vater, kurz auf den Standstreifen zu fahren, um nach Hyundai zu sehen. Ihm war es da hinten dann doch plötzlich zu still geworden. Er stieg aus und ging nach hinten. Nur wenige Sekunden später schrie er: „Barbara, komm sofort her.“ Ich sprang aus dem Wagen und sah, dass er bereits die Klappe des Anhängers öffnete. Auf dem Seitenstreifen der Autobahn!
Als ich in den Hänger blickte, gefror mir das Blut in den Adern. Noch Jahre später, wenn mein Vater die Geschichte erzählte, sagte er: „Man hätte Barbara mit einer Nadel stechen können und es wäre kein Tropfen Blut gekommen. So weiß war sie.“
Meine liebe Trakehner Rappstute lag auf dem Boden des Pferdehängers. Ein Teil des Körpers und der Kopf auf der rechten Seite (wir hatten sie links verladen). Außerdem war der Kopf kurz vor der Rampe. Den Gummianbinder, mit dem wir sie angebunden hatten, war einmal quer durch den Hänger gespannt.
Da standen wir nun zu zweit am frühen Morgen auf dem Standstreifen der Autobahn, nur wenige Kilometer von zu Hause entfernt mit einem Pferd, das völlig verdreht auf einem Hänger lag und wussten vor Schreck im ersten Moment nicht, was zu tun war.
Ein Hinweis an meine jüngeren Leser: Handys gab es damals noch nicht so wirklich.
Soweit ich mich erinnere, befestigte mein Vater einen Führstrick zusätzlich an Hyundais Halfter und ich versuchte im Hänger den völlig gespannten Gummianbinder zu lösen. Um Hyundai wieder hochzubekommen, prügelte ich mit einem Besenstiel auf sie ein. Stöhnend und schwankend stand sie dann auch irgendwann auf und ließ sich, für ihre Verhältnisse, ruhig vom Hänger führen.
Wir standen auf dem Seitenstreifen der A63.
Ich befestigte eine Longe am Hänger, so dass die Gefahr, dass Hyundai auf die Fahrbahn lief, minimiert wurde. Mein Vater hielt Hyundai am Strick kurz vor der Rampe und ich die Longe, die um mein Pferd herum zur Hängerwand lief.
Ich weiß noch genau, wie ich immer wieder auf die Notrufsäule schaute, die nur wenige hundert Meter von uns entfernt in Richtung der Wörrstädter Auffahrt stand. Links neben mir war das freie Feld. An dieser Stelle sind bis heute keine Leitplanken. Allerdings wurde dort in den letzten Jahren ein Zaun zum Schutz der Wildtiere aufgestellt. An die Fahrbahn und die vorbeirauschenden Autos auf der rechten Seite, wollte ich gar nicht denken. Ich schickte gedanklich Stoßgebete zum Himmel und an Hyundai: „Wenn du läufst, dann ins Feld. Nicht auf die Straße. Nicht auf die Autobahn! Lauf ins Feld!“
Doch sie lief nicht. Gott sei Dank! Nach einer endlosen Zeit des Stillstehens bewegte sie sich irgendwann in den Pferdehänger. Uns war klar, dass nicht nur wir Menschen unter Schock standen, sondern auch unser Pferd. Das war in dieser Situation allerdings von Vorteil. Hätte Hyundai in diesem Moment angefangen zu denken, wäre die Geschichte nicht so ausgegangen.
Eilig schlossen wir die Klappe des Hängers. Mein Vater zurrte mithilfe von Spanngurten, die er immer im Geländewagen hatte, die Trennwand des Hängers fest, so dass Hyundai nicht mehr darunter durchfallen konnte. (Als wir wieder zu Hause waren, bauftragte mein Vater einen Mitarbeiter damit, eine feste Trennwand zu bauen, denn zu kaufen gab es die offenbar nur mit einem beweglichen „Gummilappen“.) Wir banden sie so fest, dass sie sich kaum noch bewegen konnte.
Bis auf eine kleine Toilettenpause setzten wir unsere Fahrt in langsamem Tempo gen Norden fort. Irgendwann am Nachmittag kamen wir dann in Uslar auf dem Gestüt der Familie Gerke an, wo Hyundai wenige Wochen später von meinem Traumhengst Charly Chaplin gedeckt wurde.
Im nachhinein fragt man sich natürlich:
Warum sind wir nicht von der Autobahn abgefahren? Warum haben wir die Fahrt überhaupt fortgesetzt und sind nicht wieder nach Hause zurück? Warum hat keiner der vorbeifahrenden Autofahrer angehalten, um zu helfen? Aus Tierschutzsicht war sicherlich auch nicht alles korrekt, was wir gemacht haben, aber wir wollten verhindern, dass Hyundai etwas wirklich schlimmes passiert. Alles, was wir getan haben, war in diesem Moment für uns das Richtige.
Am Ende haben wir es geschafft. Hyundai trug lediglich eine kleine Wunde am Vorderbein davon, die allerdings bald verheilte. Der Schock saß bei uns allen drei noch sehr lange sehr tief, aber auch das konnten wir überwinden.
Hyundai kam sechs Wochen später gesund wieder nach Hause und war tragend mit Humphrey Bogart von Charly Chaplin.
Diese Geschichte wollte ich euch bereits Ende Februar erzählen. Einige Wochen zuvor bekam mein Vater gesagt, dass er unheilbar krank sei. Ich wollte ihm den Entwurf über unser gemeinsames, tiefsitzendes Erlebnis eigentlich zeigen, doch dann ging es ihm sehr schnell schlechter und er starb am 7. März 2023. Ich habe ein paar Monate Zeit gebraucht, um hier wieder etwas zu veröffentlichen.